Istanbul - Eine Stadt mit tausend Gesichtern

Nach einer 12-stündigen Busfahrt, sich im Abendverkehr vor einem Ticketautomat der Istanbuler Metro herumzuschlagen, um verzweifelt das richtige Ticket zu lösen, bringt das Restquäntchen Resilienz in uns zum Verschwinden. Die 16 Millionen Metropole hat uns auf dem falschen Fuss erwischt. Die Miniflasche Ouzo aus Griechenland leeren wir mit entkräfteten Schlücken, bevor wir uns völlig fertig ins Hostelbett fallen lassen. Das Zimmer teilen wir mit 2 Russen, die sich wahrscheinlich auf einen längeren Aufenthalt einstellen und 2 Deutschen, die sich um 2 Uhr nachts besoffen ins Bett legen und nach einer halben Stunde Lärm bemerken, dass sie zu betrunken sind, um schon zu schlafen.

Istanbul ist ein Schmelztiegel der Kulturen zwischen West und Ost. Ein einziger historischer Spaziergang mit geschichtlichen Querverweisen an jeder Strassenecke. Der Sehnsuchtsort einer türkischen Jugend auf der Suche nach Identität und dem subkulturellen Eldorado. Ein Fluchtpunkt des Kapitalismus der Türkei, welcher an einer der geopolitisch brisantesten Meerengen der Welt liegt. Die Ernsthaftigkeit, welche Istanbul als politisch und wirtschaftliches Zentrum umschwebt, wird jedoch durch die kosmopolitische Jugendlichkeit gekonnt konterkariert. Die pittoreske Abendskyline der riesigen Moscheen werden von Millionen Touristen mit Linsen aufgesaugt. Zwischen Hagia Sophia und Galata lässt es sich mit romantisierten Orient Vorstellungen von Westeuropäern ziemlich gut leben. In Kadiköy (asiatischer Seite) landet man in einem Open Air Studentenwohnheim, in dem sich die gefühlt hundert Kaffees, um den besten Alternativflair des Quartiers duellieren. Einige Metrostationen weiter auf der europäischen Seite, landen wir an der mittelalterlichen Stadtmauer, und überblicken die Altstadt. Als Geschichtsnerd verschlug es mir die Sprache, als ich daran dachte, wie gross diese Stadt schon vor über tausend Jahre war. Aus westlicher Sicht, erschien Konstantinopel damals als Nabel der Welt. Paris und London waren als Vergleich höchstens ambitionierte Dörfer. Aus Augenzeugenberichten von damals, die bis heute nachhallen, erschuf sich Istanbul eine Aura, die in ein paar Sätzen nur schwer zu greifen ist. Ein Leben reicht nicht, um Istanbul gesehen zu haben. Übersteht man jedoch die anfängliche Überforderung, die durch das Chaos der Menschenmassen entsteht, wird die verbleibende Zeit zu einem Erlebnis, dass man nur schweren Herzens verlassen will.


31.10.22 - 05.11.22 ; 21.11.22 - 26.11.22

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“Es fremdelet”

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Von Shkodra nach Istanbul Teil 2