“Es fremdelet”
In der Morgen - und Abenddämmerung dröhnen die Rufe des Muezzins (Gebetsausrufer) durch die, an dem Minarett hängenden, Lautsprechern. Zu Beginn liegt dem Ruf eine gewisse Strenge inne, die ein Gefühl des Ermahnens hervorruft. Ein Aufruf, ein Imperativ! Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine wertfreie Assoziation, die in mir hervorspringt. Die letzten zwei Jahrzehnte medialer Berichterstattung über den Nahen Osten hat selbst in einem, nach eigenem Verständnis, weltoffenen Geist gewisse Spuren hinterlassen. Selten bis nie gelangen wir an einen Ort, den wir ohne Vorprägungen neu kennenlernen. Die mediale Bilderflut ist in modernen Zeiten meistens schneller in unseren Köpfen als wir an diesen Orten. Selbst wenn wir uns mittels Achtsamkeit viel Mühe geben, die Bilder eines fundamentalistischen Islams nicht pauschal an einen geographischen Raum zu heften, bleibt ein Restsatz emotionaler Versatzstücke in den Tiefen unserer Gefühlswelt hängen.
Das Gefühl der Fremde entsteht meistens, wenn uns die von Kindsbeinen an eingeübten Strukturen fehlen und wir eine gewisse Orientierungslosigkeit verspüren. Befinde ich mich nun an einem unbekannten Ort entsteht diese Leerstelle in meinem Kopf, die ein Unbehagen erzeugt. Dieser unangenehme Zustand versucht mein Gehirn nun schnellstmöglich auszufüllen. Da keine eigenen Erfahrungswerte vorliegen, greift man unbewusst auf die klischierten und oberflächlichen Bilder aus den Medien zurück und damit fangen die Probleme schon an.
Dass sich der Journalismus meist mit Problemen und negativen Phänomenen auseinandersetzt, liegt in der inhärenten Logik seiner Aufgaben und Funktionsweise. Wer die Mächtigen kontrollieren will, gräbt meistens im Sumpf des Übels. Darum soll hier auf ein „Medien Bashing“ verzichtet werden. Doch der selbst erklärte Kampf gegen den Terrorismus des Westens erzeugte und erzeugt weiterhin negative Assoziationen, die den Islam grundsätzlich in eine verdächtige Ecke drängen. Unterdrückung der Frau, unfreie Gesellschaft, religiöser Fanatismus, Hass auf den Westen alles Schlagworte, die nur allzu leicht pauschal auf muslimische Gesellschaften übertragen werden. Als weltoffener und aufgeklärter Erdenbürger wähnt man sich frei von solchen Pauschalisierungen zu sein, doch die Realität belehrt eines Besseren.
Die Reflexe des Fremdengefühls lassen sich nicht so leicht mit rationalen Gedankengängen ausschalten. Vielmehr braucht es positive Einübung. Freundliche Erlebnisse mit Menschen verknüpfen Emotionen an einen bis anhin fremden Ort, der von Zeit zu Zeit sein gespenstisches, fremdes Antlitz verliert. So verliert von Tag zu Tag der Ruf des Muezzins seine Strenge, und man lauscht den wundervollen Melodien, die die Worte nur so in den Stadthimmel schweben lassen. Mit der Zeit fängt man an, den Muezzin nach seinen Sprechgesangskünsten mit seinen Berufskollegen zu vergleichen. In den Melodien schwingt ein Gefühl einer unglaublich berührenden Melancholie mit, die nicht nur im Aufruf zum Gebet spürbar wird. In der Früh, hört man die Strassenverkäufer mit ihren auf dem Kopf aufgetürmten Simit (Sesamkringel) Bergen durch die Gassen ziehen. Aus voller Kehle preisen sie ihre Ware an. Ehrfürchtig will man ihnen etwas abkaufen, bei einer solch wundervoll klingenden Werbung. Dieser melancholischer Grundsound zieht sich auch durch die offenen Autofenster, aus denen die türkischen Balladen schallen, die vom Herzschmerz des Lebens klagen. So taucht man Stück für Stück in eine magische Welt ein, die auf viel mitfühlende Resonanz im eigenen Herzen trifft.
Über Ankara, Konya, Izmir und Bursa sahen wir die verschiedenen Spielarten der türkischen Gesellschaft in ihrer manchmal liberaleren oder konservativeren Zusammensetzung. Die gelebte Zurückhaltung konservativerer Kreise in der öffentlichen Sphäre lässt sich besser einordnen und verstehen, wenn man die kulturellen Hintergründe kennt. Das Gefühl bei jeder wertbasierten Beurteilung sich wie ein Elefant im Porzellanladen zu fühlen, weil man auf Grund mangelnder Differenziertheit und Unkenntnis über die komplexen Lebenswelten von fremden Gesellschaften anmassende Urteile fällt, verschwindet mehr und mehr. Zu sagen, wenn man sich nicht auskennt, soll man keine Urteile fällen, ist zwar gut gemeint, trifft in der Realität aber leider nicht zu. Auf irgendeine Weise bewertet man seine Umgebung immer. Der intuitive Teil unseres Gehirns spielt sein welteinordnendes Programm auch gegen unseren Willen ab. Somit bleibt einzig die Flucht nach vorne. Sich seiner Gefühle von Fremde zu stellen und den Graben der Unsicherheit zu überwinden, in dem man mit Mut auf das Fremde zu geht, bietet die Chance die Gemeinsamkeiten im Anderen zu erkennen und die Andersartigkeit zu akzeptieren. Keineswegs sollte man der romantischen Vorstellung anheimfallen, dass jeder „da draussen“ dein bester Freund werden kann, wenn man ihn nur richtig kennenlernt. Die Erfahrung beim Reisen zeigt uns aber, dass das Wagnis von den meisten Menschen mit viel Freundlichkeit und Respekt belohnt wird. Wir hoffen, uns diese Erkenntnis auch für unseren weiteren Lebensweg bewahren zu können. Es wäre schön, wenn die Menschen zuhause öfter anerkennen, dass das Fremde Ängste auslöst, denn so könnte zumindest eine ehrliche Diskussion darüber angestossen werden.
05.11.2022 - 21.11.2022