Dichtestress für Anfänger
Der Smog ist auf 30 Meter Entfernung sichtbar. Die nicht abreissende Blechlawine zwängt sich durch die zu engen Strassen. Mittendrin zwei hilflose Gestalten, die mit verlorenen Blicken nach dem nächsten Orientierungspunkt Ausschau halten und dabei gestikulieren, um sich im ohrenbetäubenden Strassenlärm zu verständigen. Der Ausweg ist geplant. Das Zugticket und die Sim-Karte sind gekauft. Zwei Landeier in der Betonhölle Delhi, deren Stresspegel von 0 auf 100 schnellt. Kein Herantasten, keine Angewöhnung – Indien hat uns in seinen Strudel hineingezogen.
Im Sektor 8 in Chandigarh fliesst der Verkehr geordnet. Riesige Strassen schliessen die Quartiere ab und lassen die Stadt aus der Vogelperspektive wie ein perfektes Raster aussehen. Hier ist nichts vom indischen Chaos spürbar. Die in den 50er-Jahren aus dem Nichts aufgebaute Stadt wird vom Auto dominiert, was ein bescheidenes Fussgängererlebnis zur Folge hat. Entworfen wurde sie vom schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier (dem Mann auf der alten 10er-Note).
Nach der Unabhängigkeit Indiens von den britischen Kolonialherren wurde Britisch-Indien in unvorbereiteter, überhasteter Weise in das heutige Indien und Pakistan aufgeteilt. Mit einem Strich auf der Landkarte wurden über Nacht ganze Bevölkerungsgruppen voneinander getrennt und einige fanden sich auf der falschen Seite der Grenze wieder. Als Folge entstand der grösste Bevölkerungsaustausch in der Geschichte, der unvorstellbares Leid und ein bis heute nachwirkendes Trauma auslöste.
Im Nordwesten führte die Grenze mitten durch den Punjab, dessen Hauptstadt Lahore heute in Pakistan liegt. Im Sinne des neu entstandenen, demokratischen Indiens gab Premierminister Nehru den Auftrag zum Bau einer neuen Bundeshauptstadt, welche die Aufbruchstimmung in ein modernes Indien symbolisieren sollte. Für Le Corbusier bot sich die Möglichkeit, seine Ideen der «idealen» Stadt in die Praxis umzusetzen. Ursprünglich wurde Chandigarh für 150000 Einwohnerinnen und Einwohner konzipiert. Heute besteht Chandigarh aus drei zusammengewachsenen Städten mit einer zehnfachen Einwohnerzahl, die das «perfekte» Muster der Stadt an den Rändern ausfransen lässt.
Solche massiven Bauvorhaben werden in der Zukunft noch häufiger realisiert werden, denn der Druck auf die Städte nimmt weiter zu. Chandigarh zeigt, dass dem Dichtestress mit mutiger Planung etwas entgegengesetzt werden kann und die Aneignung eines fremden Städtekonzepts möglich ist. Diese seltsame Stadt war für uns ein wohltuendes Intermezzo. Die kolossalen Veränderungen im zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt sind aus dem fertig gebauten Dorf Schweiz nur schwer fassbar: Wenn Sie an der nächsten Gemeindeversammlung über einen Quartierplan debattieren, entsteht vielleicht irgendwo in Indien gerade eine neue Stadt