Sich aus der Armut schlagen
Die Sonne brennt über Mumbai. Von der Aussichtsplattform neben einer Brücke überblickt man – vor dem Hintergrund riesiger Hochhäuser – die grösste Open-Air-Wäscherei Indiens. Ein kleines Mädchen gesellt sich dazu und verwickelt uns in ein Gespräch, als sie realisiert, dass wir keines ihrer Souvenirs kaufen wollen. 9 Monate lebt und arbeitet ihre Familie hier, bis sie in ihre Heimat Gujarat zurückkehren. Sie verkauft lieber Dinge, denn die Arbeit der Wäscher und Wäscherinnen ist hart und anstrengend.
Während wir in der Altstadt mit der Oberschicht in chic möblierten Bars zu Punjab-Rap Bier trinken, wird mir meine soziale Stellung auf eine unangenehme Art und Weise wieder ins Gedächtnis gerufen. In unserem Hostel werden Slumtouren angeboten. Der moralische Kompass dreht durch. Wir diskutieren, warum westliche Touristen mit sozialer Ader das Gefühl haben müssen, der Armut direkt ins Gesicht zu blicken. Hinschauen muss man, aber wie und warum?
Im Dhobi Ghat waschen täglich 7000 Wäscher und Wäscherinnen 16 bis 20 Stunden lang mehr als 100000 Kleidungsstücke für Krankenhäuser, Hotels und diverse Einrichtungen. Im Unterschied zum riesigen Heer an Arbeitern im informellen Sektor (ohne Vertrag, ergo ohne Sicherheiten) sind die «Dhobis» (Wäscher) gemeinschaftlich organisiert und der Waschplatz wird mittels Lizenz zugeteilt. Gewisse Familien leben seit Generationen hier und die erfolgreichsten müssen die Kleidungsstücke nicht mehr am Waschplatz von Hand trocken schlagen, sondern können auf Maschinen zurückgreifen.
Dass diese Form von Arbeit im industriellen Zeitalter noch wettbewerbsfähig ist, sagt viel über den Arbeitsmarkt aus. Die ärmere Hälfte der indischen Bevölkerung verdient im Schnitt (!) rund 150 Franken pro Monat und bewegt sich immer gefährlich nahe an der absoluten Armutsgrenze von 2 Dollar/Tag. Trotz Widrigkeiten sind die Bewohner und Bewohnerinnen stolz, dass sie sich seit mehr als 100 Jahren behaupten konnten.
Schwärmt man vom indischen Wirtschaftswachstum, das durchaus beeindruckend ist, gerät oft in Vergessenheit, dass Indien – trotz gewisser Verbesserungen für den ärmeren Teil der Bevölkerung – heute zu den Ländern mit den grössten sozialen Unterschieden gehört. Die Gründe sind vielschichtig und komplex. Auffallend ist jedoch, dass die indische Kultur eine ungeheure Konservierungskraft zu besitzen scheint. Zäh halten sich überkommene Vorstellungen. Progressive Gesetze versinken nur allzu oft im Morast traditioneller Gewohnheiten.
Während die Oberschicht nach Westen schaut und sich an europäischen Standards misst, schaue ich mir selbst zu, wie ich das Dhobi Ghat überblicke und das unsichtbare Gehäuse suche, das die Unterschichten von den Gewinnern der Globalisierung trennt. Ich schaue hin, um zu verstehen – versuche ich mir zumindest einzureden. Ich hoffe, das tun Sie auch.