Sternenmeer


Der Busfahrer ist 67 Jahre alt und ein ehemaliger Bauingenieur. Während der Fahrt zum Busbahnhof lamentiert er über die Arbeitslosigkeit, den Kapitalismus und lobt dabei die deutsche Disziplin. Wir sind zwar Schweizer und verstehen kein Italienisch, aber das Ziel und der Preis stimmen. Der Busbahnhof gleicht dann eher einem Parkplatz, und eine Anzeigetafel braucht es ja auch nicht, wenn man einen ganzen Chor schreiender Busfahrer hat. Willkommen in Albanien!

Das Land litt mehr als 40 Jahre lang unter einer brutalen kommunistischen Terrorherrschaft, die bei ihrem Zusammenbruch die Menschen hungernd und ohne funktionierende staatliche Strukturen zurückliess. Der Übergang zu Kapitalismus und Demokratie verlief so schwierig, dass Albanien in den 1990er-Jahren als «failed state» betrachtet wurde und internationale Unterstützung brauchte. Kein Wunder, gibt es eine riesige albanische Diaspora, vor allem in Italien, die ihr Glück in Westeuropa suchte. Die albanische Diaspora in der Schweiz stammt überwiegend aus dem Kosovo.

Mittlerweile begegnet man in den Städten einer kosmopolitischen Jugend, die ihre subkulturellen Prägungen selbstbewusst auslebt. Ein weiteres Insigne des Kapitalismus rast uns in Form eines Sterns ständig um die Ohren. Kein Stern am Firmament, sondern auf der Motorhaube. Der Star auf den albanischen Strassen ist der Mercedes. Mit einem Anteil von rund 30 Prozent – eine Zahl des albanischen Strassenverkehrsamts – dominiert die deutsche Edelkarosse in allen erdenklichen Farben und Modellen das Strassenbild. Würde man bei jeder Sichtung einen «Kurzen» trinken… – Sie wissen, worauf ich hinauswill. Es sind grotesk viele.

Ob wegen strenger EU-Abgasnormen ausgemustert oder aufgrund des guten Rufs der deutschen Industrie, der Mercedes wurde zum Volkswagen der Albaner auserkoren. Vielleicht begann es als Geschenk der Diaspora oder der Zufall ist schuld. Es wurde ein Mythos und entwickelte sich zu einer Manie.

Auf küchenpsychologischer Ebene macht das Ganze vielleicht Sinn, wenn man bedenkt, dass es in Albanien bis 1990 verboten war, ein Privatfahrzeug zu besitzen. Nur der Diktator Enver Hoxha besass einige, die er jedoch nicht häufig ausfuhr. Um die Fassade, ein Mann des Volkes zu sein, nicht zu stark zu strapazieren, liess er seinen Mercedes in der Garage. Sie haben richtig gelesen. Der Diktator war ein Mercedes-Fan. Die Skurrilitäten um den Benzer scheinen nicht abzureissen. Um keine falschen Schlüsse zu ziehen, begrub ich meine Recherche und liess die Geschichte ruhen.

Jedes Aufheulen eines Motors, das durch die Plattenbauten der Hauptstadt Tirana dröhnt, ringt mir von nun an nur noch ein müdes Lächeln ab. Ich nehme einen Schluck exzellenten, albanischen Espresso und werde zukünftig das «Posen» mit dem Stern wohlwollend als ein Stück Kulturgut abtun.


Zurück
Zurück

Hellenischer Helvetier

Weiter
Weiter

Von Basel nach Shkodra